Aufbauarbeiten

Kriiiiiiihhhhhhhheiiiiiiiiiiirrrrrrsch.

Es ist sieben Uhr. Mein Freund der Polier hat das Spiel angepfiffen. Die Kreissäge flötet mir ein fröhliches Wecklied. Welch ein bezaubernder Start in den Tag! Ich springe aus dem Bett und unter die Dusche. Der klanglich frisch dazu drapierte Presslufthammer gibt mit den Einseifrhythmus vor.

Bububububububbb.

Ein wenig schmerzhaft ist es schon. Und auf Dauer gibt es blaue Flecken.

Frisch geduscht und behämmert geht es im Bademantel Richtung Küche. Das künstliche Erdbeben ist angeschaltet und ich bin mit dem PowerPlate-Workout schon durch bevor ich den Kühlschrank erreiche. Ganz ohne eigene Anstrengung – herrlich ist das!

Nach erfolgter Speisung drängt es die Katzen zum Verdauungsspaziergang auf den Balkon. Ich lege meine biss- und kratzfesten Arbeitshandschuhe an, bevor ich ihnen wie jeden Tag die kleinen Atemschutzmasken überstülpe. Komischerweise scheinen sie sich an die Prozedur nicht gewöhnen zu wollen. Vermutlich machen sie sich wegen des Baustaubs nicht mal Sorgen! Aber sie müssen ja auch nicht mit dem Schneepflug jeden morgen die Fenster frei räumen, damit die Pflanzen wenigstens hin und wieder einen Sonnenstrahl abbekommen.

Bau bildet auch! Der Sonnenschein und ich haben jüngst die Gebärdensprache erlernt. So können wir beim Frühstück wenigstens die grundlegenden Liebenswürdigkeiten austauschen. Da auch wir während der Lüftvorgänge Atemschutzmasken tragen, kommt es in letzter Zeit allerdings oft zu Mißverständnissen. Wir verzichten daher immer häufiger auf das Frühstück, zumal wir uns wegen des andauernden Gerüttels ohnehin ständig verbrühen oder beschlabbern.

Während der Sonnenschein eifrig die Katzen aus dem Baustaub siebt, beginne ich gegen 7:30 Uhr mit der allmorgendlichen Hausverlassungsprozedur. Das Öffnen und Schliessen der Wohnungstür stellt die erste große Herausforderung des Tages dar. Das Haus hat sich verzogen – nicht passt mehr so richtig. Auch ich passe kaum noch in meine Klamotten. Merkwürdig. Wenigstens die Stahlkappengummistiefel scheinen unverzogen geblieben zu sein.

Vor der Haustür dann die nächste Hürde. Ein Parcours aus leeren Bierflaschen, die meine Freunde vom Bau für uns aufgereiht haben. Es ist so entzückend, wie sie jeden Morgen versuchen mich mit einer neuen Formation zu beeindrucken.

Gegen 7:55 Uhr habe ich die 20 Meter bis zur Straße hinter mich gebracht. Dort wartet schon Michael mit seiner gelben Leuchtweste und seiner Kelle auf mich. Michael ist Schülerlotse und Bodyguard in einem. Ich habe ihn beauftragt, mich an den pöbelnden und pinkelnden sowie an den pfeifenden und palavernden Bauarbeitern aus Babel vorbei über Lastwagen hinweg unter Baukränen hindurch um Baupfützen herum auf die andere Straßenseite zu bringen, wo ich dann – im besten Fall – gegen 9:00 Uhr ankomme. Michael und ich sind inzwischen schon gute Freunde. Eine echte, unkaputtbare Baustellenfreundschaft. Wo gibt es so etwas Ehrliches schon heutzutage noch?

Und dann das: Heute morgen wache ich vom Vogelgezwitscher vor meinem Fenster auf. Was für ein widerliches Geräusch! Ahnungsvoll ziehe ich die Rollos nach oben. Vor meinem Fenster haben sich über Nacht Dramen abgespielt. Mein liebgewonnenes Baustellenidyll ist hinterrücks von einem hochmodernen Bürogebäude mit allem Schnickschnack weggemeuchelt worden. Kein Dreck, keine Bierflaschen, kein Lastwagen. Und weit und breit kein Michael.

21 Kommentare

  1. Und es klappt doch, das Blog zu bedienen ! Nun starrt es dich nicht mehr an. Es muss ein grauen für Euch gewesen sein unter solchen Umständen zu leben, ich wäre bestimmt am Tag 10 mal ausgerastet, wenn das überhaupt reicht. Ende gut alles gut.

    LG Tobi

  2. Ich empfehle Umzug nach Berlin. Die Angst vor der nächsten Großbaustelle nebenan gehört zum Mietvertrag. Derzeit ist besonders Mitte-Nord zu empfehlen. Für die kurze Urlaubserholung mit Bedingungen wie früher stelle ich Dir gern meine Liege auf der Terasse bereit und nen Michel finden wir bestimmt auch noch …

    1. Da war ich gerade letztes Wochenende und ich muss Ihnen sagen. Berlin, das ist trotz aller Baustellen nicht meines. Es ist zuviel Gestank anwesend.

  3. Vielleicht kannst du diese Tiere, die nun das elende Gezwitscher verzapfen, bitten, die mal ordentlich ans Fenster zu kacken. Wegen der Gewohnheit…Baustaub am Fenster…Vogelmist am Fenster….das ist doch alles eins und hilft die möglicherweise über den Verlust von Michael hinweg.

    1. Gegen die Zwitschertiere hilft mir meine achtbeinige Zwitschertierfalle. Und was Michael betrifft. Ich glaube, der hängt jetzt lieber mit Marianne ab….

  4. Ein ganz wunderbarar Text. Ich habe sehr gelacht, bevor mir die Fröhlichkeit im Hals stecken blieb und ich an meine Zeit in Köln dacht, als genau nebenan ein Haus abgerissen und wieder aufgebaut wurde. Die unfreiwilligen Sport-, Puder- und Beschallungsmomente kenne ich also zur Genüge. ;) Urghh!

  5. Oh, wie bekannt kommt mir dieser sehr gelungene Text doch vor! Während der vergangenen sage und schreibe acht Wochen ist es einem ansehnlichen Trupp Bauarbeitern doch glatt gelungen, in unmittelbarer Nähe meines Domizils fünfzig Meter neue Trambahngeleise sowie die Pflasterung zweier Haltestellen zu erneuern! Was die Geschwindigkeit und den Arbeitsrythmus betraf, haben die Jungs rekordähnliche Maßstäbe angelegt. Nach Einbruch der Dunkelheit wurde die Kakophonie ihrer Arbeitsinstrumente dann vom vielstimmigen, disharmonischen Gekreisch, Geplärre, Gelächter und Gegackere der Schicki-Micki-Kneipe im Nachbarhaus abgelöst – bis in die frühen Morgenstunden… So lernt man, sich zu bescheiden, und mit zwei bis drei Stunden Schlaf pro Nacht zufrieden zu sein…

    1. Ich habe inzwischen vom vielen Baustaub kleine Propfen in den Ohren, die mich das Leben wie durch einen Wattebausch wahrnehmen lassen.

  6. Ach, um diese kleinen, lärmdämmenden Staubpfropfen in den Ohren beneide ich dich fast ein bißchen. Ab Montag wird die leerstehende Wohnung über mir renoviert, vielleicht sollte ich mich in nächster Zukunft mehr dort aufhalten? Um auch wohltuend betäubende Staubpfropfen zu bekommen?

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