Trama

In der Straßenbahn saß die Woche einer von diesen Quasslern – Sie wissen schon, einer von denen die lautstark vor sich hin schimpfen, ohne erkennbaren Grund, ohne Adressat, ohne Unterlass. Die Leute nervt das einen kurzen Moment, sie nehmen es aber bald nur noch als kleines Requisit inmitten der gesamten Geräuschkulisse wahr. In der Stadt lernt man das Weghören ebenso schnell wie das Wegsehen. Ein Mann, der schon am frühen morgen mit einer Flasche Bier in der U-Bahn steht? Nein – ich glaube da war keiner.

Aber der Quassler, der war ganz sicher da. Ein zufällig mitreisender Verkehrsbetriebsmitarbeiter hämmerte diese Erkenntnis recht lautstark in die Köpfe aller Anwesenden. Zunächst forderte er den Quassler einigermaßen freundlich auf, den Mund zu halten. Was dieser natürlich nicht tat, weil es gegen seine Natur wäre. Das reizte den selbst erkorenen Ohrenschützer bis aufs Blut – sein Stimme wurde lauter, seine Beschwörungen wurden zu Beschimpfungen. Er solle den Schnabel halten und aufhören, die Leute zu belästigen. Der Quassler riet ihm im Gegenzug freundlich, ihn in Ruhe zu lassen und sich um seine Angelegenheiten zu kümmern. 0:1. Das genau SEI seine Angelegenheit, entgegnete der MVVler wutschnaubend. 1:1.

Das Trampublikum schmunzelte in sich hinein – ganz leise, ganz unauffällig. Niemand wollte sich die Blöße geben, sich für das Gezänke der beiden Streithähne zu interessieren. Doch die vielsagenden Blicke, die kreuz und quer durch die Bahn schossen, liessen auch die beste Tarnung auffliegen. Während die Leute ihre Nasen immer tiefer in ihre Bücher steckten oder angestrengt aus dem Fenster starrten, rhabarberte der Quassler munter weiter und weiter und weiter. 1:2.

Sein Widersacher wurde sich bewusst, dass er nicht mehr viel Zeit hatte, das Spiel noch herum zu reissen. Und dazu musste ihm jedes Mittel recht sein. Er entschied sich für ein klares Foul. Er sei doch krank im Kopf, raunzte er den Quassler an. 2:2. Das Publikum jubelte schweigend. Wenigstens ein unentschieden hatte er noch rauspielen können!

Dann war das Spiel aus. Die  Tram hielt und kippte ihr Innenleben in die Haltebucht. Der wütende Oberaufseher spurtete an mir vorbei und wie von der Tarantel gestochen die Treppe zur U-Bahn hinunter. Hinter mir vernahm ich die Stimme des Quasslers, der den Schlusspfiff wohl nicht vernommen hatte. Er nuschelte dem Gegner hinterher: „Einen schönen Abend noch,“ (nun gut, es war nicht mal 9 Uhr am Morgen) und dann noch etwas leiser: „Ich hab es doch gar nicht so gemeint…“  2:3.

9 Kommentare

  1. Ich hab ja beim Lesen die ganze Zeit darauf gewartet, dass sich das arme Publikum gegen den Störer verbündet und den MVVler rausschmeißt. Vor städtischem Hintergrundrauschen ist doch so ein Quassler eher wie ein angenehmer Springbrunnen. Oder?

  2. Die Menschen schweigen oder schreien selten nur aus Menschlichkeit! Schöner wäre es wenn sie sich in Freiheit üben und ihre Feigheit ablegen. Ob es nun in der jeweiligen Situation angepasst ist oder nicht entspricht sicherlich der Natur des jeweiligen Menschen, Feingefühl und einen objektiven Blick für die Situation besitzen die wenigsten Menschen. Schweiger fordern oder mahnen und werden immer überhört, sie wiegen sich so wunderbar in Sicherheit. Feige schlagen oder schreien und üben sich in Duldsamkeit und freie Menschen stören oftmals ihre Sicherheit…. Die Menschheit ist mir schon eine.

    LG Tobi

  3. @Not quite like Beethoven Sie glauben tatsächlich noch an die gute alte Zivilcourage? Süß. Ich glaube, die potenziell Zivilcouragierten arbeiten beim Roten Kreuz oder in Afrika oder so. In der Straßenbahn um nicht einmal 9 Uhr morgens lässt sich die Z. nicht blicken. Vielleicht sind die Leute auch einfach nur viel zu müde.

  4. @Tobi In Frankfurt rannte jahrelang einer durch die Stadt, der mit einem starken norddeutschen Akzent das ganze Elend der Welt aus sich herausbrüllte. Ich freute mich jedesmal, wenn ich ihn zufällig wieder sah. Er gab der Stadt etwas Kuscheliges.

  5. Zivilcourage? Nein, worauf ich spekuliert hätte, wäre nur die überraschende Wendung in der Geschichte gewesen. ;-)
    Aber Sie haben schon recht – das ist etwas weltfremd. Eigentlich ist dem Durchschnittsdeutschen, zumal im morgendlichen Dämmerschlaf, noch eher das Einmischen gegen stinknormale Nazis zuzutrauen als gegen Autoritätspersonen wie, Gott bewahre, Angestellte der öffentlichen Verkehrsbetriebe. Der Mann war ja vermutlich sogar noch in Uniform….

  6. @Mellcolm Einen ähnlichen Fall erlebte ich in Leipzig. Ein Typ rannte immer mit einem kleinen Kofferradio am Ohr durch die Stadt und grüßte alle Menschen. Doch die Menschen machten alle einen großen Bogen um ihn. Eines Tages kam er direkt auf mich zu, er lächelte und sagte hallo. Ich reichte ihm meine Hand und grüßte zurück, nun lächelte er noch mehr, er freute sich so doll. Ich fragte ihm nach seinem Namen, er antwortete „ich heiße Jens und höre gern Schlager“. Im gleichen Atemzug hielt er mir sein Radio ans Ohr und sagte „gute Musik, gute Musik“. Ich lachte herzlich und sagte „Jens du passt in die Welt“. Er brauchte nicht viel um Glücklich zu sein, er war es.

  7. „Meiner“ lief früher immer die Fußgängerstraßen in Ulm ab, derselbe wurde auch in Tübingen gesichtet. Sehr groß, sehr hager, braun gebrannt, wildes Haar, sehr sonore Stimme, lautstark gegen alles Mögliche räsonierend, meist politisch. Zwei, drei Mal versuchte ich ihn direkt anzusprechen. Auf meine Frage „Bitte?“ hin verstummte er jedes Mal, ging mir aus dem Weg, legte hinter mir dann wieder los.

    Gestern traf ich auf seinen „Bruder“. Der stand auf einer Verkehrsinsel vor dem Kieler Hauptbahnhof, hatte Karteikarten in der Hand und tönte noch lauter als der schon reichlich Stimme gebende „Ulmer“ / „Tübinger“. Der „Kieler“ stand mindestens vier bis fünf Stunden da – jedenfalls stand er noch da, als ich nach dieser Spanne wieder an der Stelle vorbeikam.

    Sie wollen was an den Mann / an die Frau bringen. Aber was? Ich hab ihnen auch nicht zugehört; niemand hört ihnen zu. Ob sie früher mehr Publikum hatten? Haben sie da vielleicht Schälmesser angepriesen. Oder dieses Mittel, welches sogar Tomatensaft aus dem Gewebe löst?

    „Hempels“ und „Trottwar“ jedenfalls haben einige Passanten den ganz leise ihre Obdachlosenzeitung anpreisenden VerkäuferInnen mit dem Ausweis abgekauft.

    Das meiste Interesse wurde meiner Beobachtung nach von Wien bis Buxtehude den Living Dolls entgegengebracht. Die sind ja stumm. Genau wie der Pirat, der in Laboe an der Reling des Minensuchbootes der Marine posierte, mit Augenklappe, Säbel, Stulpenstiefel und wehender Feder am Hut. Der hatte das zahlenmäßig größte Gafferpublikum.

    Und dem Mann, der leise nachfragte, was diese Inszenierung auf einem Marineschiff in Zeiten realer Piraterie (mit doch nicht ganz unerheblichen Folgen zum Beispiel für die Besatzung der „Stavanger“) denn soll, wurde von einem Mitglied der Marinekameradschaft bedeutet, er möge schweigen und sich schleichen.

    Ach du Schreck: Jetzt hat meine Geschichte auch keine Pointe. Und die Zivilcourage blieb auch auf der Strecke… nix für ungut

  8. In Frankfurt rannte jahrelang einer durch die Stadt, der mit einem starken norddeutschen Akzent das ganze Elend der Welt aus sich herausbrüllte.

    Von der Sorte gibt’s in München aber auch genug. Nur nicht unbedingt mit norddeutschem Akzent.

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