Wenn es am schönsten ist, sollte man gehen. Nach zwei Nächten in der freundlichen Obhut von Herrn Bates war es für uns an der Zeit, die Lodge unseres Vertrauens zu verlassen und in vielerlei Hinsicht neue Wege zu gehen. Nach dem zweiten 5-Sterne-Frühstück, schnürten wir unser Päckchen, beglichen brav unsere Rechnung und zogen von dannen. Herr Bates schmeißt die gesamte Lodge alleine mit seiner Frau und kann naturgemäß nicht gleichzeitig den Pool säubern, Betten beziehen, das Frühstück zubereiten und Gäste ein- und auschecken. Wenn er also mal keine Zeit hat, persönlich von seinen Gästen Abschied zu nehmen, vertritt ihn ein außen am Rezeptionsbüro angebrachter Briefkasten, in den man die Gebühr für Kost und Logis auch einfach einwerfen kann – einen Namen oder eine Zimmernummer muss man dazu nicht angeben. Am Ende wird schon alles irgendwie stimmen.
Heute stand uns wieder ein weiter und hoher Marsch bevor. Hatten uns am ersten Tag noch getrocknete Mangospalten als Wegzehrung gereicht, waren wir nach den kulinarischen Hochgenüssen die sich am Familienwandertag in den Rucksäcken versammelt und uns bei den diversen Pausen und Päuschen erfreut hatten doch inzwischen Besseres gewohnt und hatten nicht vor, unseren Standard wieder herunter zu schrauben. Glücklicherweise hatten wir uns jedoch rechtzeitig einer List bedient, um unsere Versorgung zu sichern. Als sich nämlich die letzte Familienwanderpause am Vortag ihrem Ende näherte und die immer noch üppigen Vorräte an Wurst, Brot und Obst verstaut werden wollten, boten wir dazu großzügig und ohne Hintergedanken unsere eigenen Rucksäcke hierfür an. Das Proviant war am Abend bereits in Vergessenheit geraten und so reiste die Familie beseelt ab und die Würste, Brote und Früchte blieben bei uns.
Die vom Oberhaupt der Familie geplante Tagesetappe sollte uns zunächst 1’200 Meter bergauf und anschließend wieder 1’000 Meter bergab führen. Der Aufstieg war steil und der erste bei dem auch das schwächelnde Geschlecht einen Beitrag zu Gepäckbeförderung leisten musste. Nach 700 Metern waren bereits 80% meiner Lust in irgendeiner heimeligen Berghütte eingekehrt, nach weiteren 300 Metern stiegen auch die restlichen 20% aus. Wir kämpften mehr oder weniger gemeinsam mit einer Gruppe älterer Engländer und einem nur wenig jüngeren südafrikanischen Pärchen gegen den Berg.
Die Engländer marschierten ein ums andere Mal an uns vorbei. Der älteste von ihnen führte dabei das Trüppchen an und liess sich nicht nehmen, jedes Mal wenn er uns wieder begegnete, einen Witz auf Kosten seiner leicht jüngeren Begleiter zu machen, die hinter ihm her keuchten. Da die Engländer aufgrund ihres nicht alters- oder konditionsgemäßen Marschtempos immer wieder pausieren mussten, während wir den Berg stetig und ohne Pausen eroberten, wiederholte sich das lustige Spiel immer wieder. Beim südafrikanischen Paar war die Sache anders gelagert. Vermutlich saßen die Beiden noch am Frühstückstisch als wir bereits das erste Drittel des Aufstiegs hinter uns gebracht hatten. Als wir etwa auf 800 Metern waren, schossen die Beiden an uns vorbei. Die Frau stürmte mit der Geschmeidigkeit einer Bergziege voran, ihr nicht ganz so geschmeidiger Gatte bemühte sich redlich den Anschluss nicht zu verlieren.
Bei rund 1’000 Metern war der Gipfel endlich in Sicht. Die letzten 200 Meter erschienen wie ein Kinderspiel. Während mein pfeilschneller Wandergefährte schon ganz kurz vor dem großen Durchbruch stand, dauerte es in der Schneckenabteilung unserer Wandercombo noch einen Moment. Der Herr war vorgelaufen (wohl auch, um meinem zunehmenden Genörgele zu entkommen) und wartete weiter oben an einer Weggabelung auf mich. Als ich mich der Gabelung und dem kurz dahinter liegenden Gipfel näherte, fühlte ich eine leichte Euphorie in mir hochsteigen. Als ich aber schließlich an der Gabelung angekommen war, erstickte der eher betretene Gesichtsausdruck des Wandergefährten diese Euphorie so schnell, wie sie daher gekommen war. Er habe sich vertan, gestand er. Zwar sei die gezeigte Stelle durchaus eine Art Gipfel, leider habe dieser Gipfel aber mit unserer Wanderroute rein gar nichts zu tun. Stattdessen führte er weiter aus, unser Etappenziel sei ein Bergsattel etwas weiter links. Ich schluckte, mindestens drei Mal. Denn nicht nur, dass besagter Bergsattel viel weiter weg (und viel höher gelegen) war als der Gipfel, den ich in mein kleines Herz geschlossen hatte, er war auch viel steiler als ich zu dulden bereit war. Kurz vorher hatte ich aus der Ferne die beiden Südafrikaner hinaufkraxeln sehen und es sah – weiß Gott – nicht nach einem Spaziergang aus, eher nach etwas Messmereskem. Kurz: Ich wollte da nicht hoch, nicht für Geld und gute Worte. Aber so sehr ich mich auch innerlich sträubte und so sehr ich äußerlich die Unterlippe nach vorne schob und die Stirn in Falten warf, so wenig Alternativen gab es doch. Den bereits erarbeiteten Weg wieder nach unten zu wandern und erneut in Bates Motel einzukehren, war keine wirklich attraktivere Option.
Ich schluckte erneut, diesmal sicher fünf Mal. Und trottete dann meinem Bergführer missmutig hinterher. Zwischendurch wurden wir wieder vom britischen Altejungsclub überholt, die sich – bar jeder Angst – ebenfalls anschickten, den bedrohlichen Bergsattel zu bewältigen. Wir talpten also am bereits leicht angeschneiten Kieshang entlang, immer der Sattelspitze entgegen. Wider Erwarten präsentierte sich der Hang weniger unwirtlich als erwartet, so dass wir den Bergsattel schließlich ohne Tote oder Verletzte beklagen zu müssen, dennoch erreichten. (Also wenn man mal von meinen BEIDEN Achillessehnen absieht, bereits seit dem zweiten Wandertag kurz davor waren in aller Stille zu versterben…)
Oben angekommen trafen wir sie alle wieder. Die Engländer, die Südafrikaner – einfach alle. Wir packten unsere gefringste Brotzeit aus und genossen die Aussicht in beide Richtungen sowie die kurze Ruhepause für unser Beinfleisch. Da wir aber nicht zum Spaß da waren, sondern zum Wandern, war die Pause nur von kurzer Dauer. Noch schnell einen Drops beim Südafrikaner erschnorrt und es konnte weiter gehen – diesmal bergab. Meine Achillessehnen bäumten sich vor Freude ein letztes Mal auf, während meine geschundenen Zehen die Hände über dem Kopf zusammen schlugen. Noch einmal wurden die Schuhe enger geschnürt, um das Schlimmste zu vermeiden.
War uns der Aufstieg schon schier endlos vorgekommen, leerte uns der Abstieg eine weitere Lektion ins Sachen Endlosigkeit. Zwar ging es runter – ohne Zweifel -, aber das große „Unten“ wollte einfach nicht auf der Bildfläche erscheinen. Hin und wieder dachte ich bereits darüber nach, mich einfach auf den Boden zu werfen und mich hinunter kullern zu lassen. Vermutlich hätte ich mir dabei allerlei Blessuren geholt, aber wenigstens hätten meine Füße nicht weiter leiden müssen. Nach gefühlten 12 Stunden Abstieg erreichten wir schließlich den Ortsrand von Adelboden und entdeckten dort auch unsere südafrikanischen Wegbegleiter wieder. Sie waren ähnlich ahnungslos wie wir, wie man nun am schnellsten zum Ziel gelangen würde. Unter Zuhilfenahme der geballten schweizerdeutschen Sprachkenntnisse meines Wandergefährten, gelang es uns einem einheimischen Landwirt genauere Anweisungen zur Erreichung unseres Bed & Breakfasts zu entlocken. „Dir weit sicher zu Chlopfästees?!“ Ich hatte keine Ahnung, was das zu bedeuten hatte, aber der Wandergefährte nickte zufrieden und nahm die darauf folgende Wegbeschreibung dankend in Empfang. Auch die Südafrikaner schienen irgendwie froh, dass ich einen Babelfisch dabei hatte, der ihnen auch bei ihrem Hotel würde helfen können.
Da der für uns richtige Teil der Stadt dummerweise auf der anderen Seite des vor uns liegenden Tales zu finden war, führte uns unser Weg zu den „Chlopfästees“ zunächst wieder ein kleines Stück hinauf und dann wieder ein ganzes Stück den Berg hinunter. Meine Füße zeigten mir einen Vogel, ich tat dasselbe mit meinem Wandergefährten. Um das weibische Gejammer nicht mehr länger ertragen zu müssen versprach er mir schließlich, dass ich meine Wanderschuhe aus und meine leichten Pantoffeln anziehen dürfe, sobald wir unten im Tal angekommen seien. Das stellte mich für ein paar Meter ruhig, fast schwebte ich ob solcher Aussichten hinab ins Tal. Unten angekommen forderte ich stehenden Fußes mein Recht ein und entledigte mich meiner Wanderschuhe. Das Gefühl nach einem solchen Tag in die Crocs zu schlüpfen, war mit nichts zu vergleichen. Es war einfach großartig. Phänomenal. Himmlisch. Dumm nur, dass wir im Tal noch lange nicht wirklich am Ziel waren. Um das zu erreichen, mussten wir nämlich noch einmal rund 80 Meter nach oben. Jeder einzelne davon schmerzte sehr.
Völlig unerwarteter Weise erreichten wir an diesem Tage doch noch das Haus Alpengruss. Zwar waren die Klopfensteins nicht in Sicht, aber draussen vor der Tür war auf einer kleinen Tafel unser Name und unser Zimmer angeschrieben – der Schlüssel steckte bereits gemütlich in der Tür. Das Bed & Breakfast war ein mit viel Liebe zum Detail gestalteter Traum, in dem wir uns vom ersten Moment an pudelwohl fühlten. Frisch gestriegelt und gespornt (und weiterhin in Crocs) fanden wir uns schon wenig später in der (dem Wandergefährten) bekanntesten Restauration der Stadt wieder, wo wir uns jeweils eine traktorradgroße Pizza einverleibten. Das hatten wir uns schließlich verdient. Vollgestopft und müden Fußes wanderten wir schließlich nur wenig später in unserem kuscheligen Hochbett ins Reich der Träume.
Der vierte und letzte Teil folgt in Kürze.
Könnte stundenlang lesen und verschmitzt lächeln…weiter so finde das super`!
Liebe gruss nach München lisa
wunderbar. Ich bin immer noch erstaunt, dass es nicht die ganze Zeit geregnet hat. Ich kenne Kandersteg nur im strömenden Regen.
am allerbesten ist: Messmereskem
wunderbares Wort.
Gruss, Tine
Hätte nicht gedacht, daß man so nah an die Gemsen ran kommt. …oder ist das wohl doch eher eine Ziege? ;-)